Frust bei zwei Thurgauer Bobfahrern

12.02.1997

Thomas Handschin und Markus Nüssli zittern um ihre WM-Medaillen

Statt Jubeltag mit dem dreifachen Schweizer Medaillengewinn der grosse Frust nach der Viererbob-WM in St. Moritz. Die Enttäuschung war auch bei den Thurgauern Thomas Handschin (Silber mit Pilot Christian Reich) und Markus Nüssli (Bronze/Marcel Rohner) gross. «Wir hoffen natürlich, dass das Klassement so bleibt», geben sich beide zuversichtlich.

Ruedi Stettler

Bei den drei erfolgreichen Schweizer Viererbobs waren die Achsen im Bereich des Lagers für die Kufenaufhängung verschraubt und durch einen Stift gesichert. Das Reglement schreibt aber vor, dass ein durchgehendes Stahlrohr verwendet werden muss.

Nichts ist vertuscht worden

Gegen den Vorwurf, die Schweizer härten sich mit diesen Änderungen verbotene Vorteile verschafft, wehrt sich der Amriswiler Bremser im Team von Christian Reich, Thomas Handschin, vehement: «Das ist eine mutwillige Behauptung. Wir haben die Achse von Klaus Novak erhalten, der für unser Material zuständig ist. Der Deutsche beliefert auch andere Equipen (Dosthaler/Wiese) mit dem gleichen Produkt.»

In einzelnen Medien tauchte auch die Meldung auf, die Eidgenossen hätten die ominöse Stelle mit Farbe oder Klebeband «versteckt». Handschin verneint das: «Beii unserem Bob war nichts abgedeckt, nur mit Farbe überdeckt. Das Loch konnte man von einem halben Meter weit weg genau erkennen. Wir wollten sicher nicht betrügen.»

Ganze Saison mit gleichem Material

Für Handschin ist unerklärlich, warum das Material an der WM beanstandet wurde: «Wir haben die ganze Saison mit dem gleichen Material absolviert. Die Schlitten sind mehrfach kontrolliert worden und nie gab es Reklamationen.»

Ein anderer Punkt stösst dem 23jährigen kaufmännischen Angestellten, der seinen Arbeitsplatz von Frauenfeld nach St. Gallen verlegt hat, besonders sauer auf: «Unser Schlitten wurde als erster kontrolliert und mit Protokoll für in Ordnung zurückgegeben. Dasselbe Prozedere ging reibungslos bei Götschis-Team über die Bühne. Erst beim Rohner-Bob wurden die Prüfer auf diese Achsen-Änderungen aufmerksam. Nun wollten die Funktionäre unsere Schlitten nochmals sehen. Das ist komisch, abgenommen ist abgenommen. Von diesem Moment an ging alles drunter und drüber.»

Wie geht es weiter?

Handschin und seine Teamkollegen reisen am 14. Februar nach Nagano und absolvieren dort - notgedrungen wieder mit den Standard-Achsen - die Weltcup-Rennen. Anschliessend folgt eine Trainings-Woche als Vorbereitung für die Olympischen Spiele. Ende Monat ist Saisonschluss. Kurz zuvor fallt in Japan der definitive Entscheid zu dieser WM.

Handschin darf, vorausgesetzt er kann die Silbermedaille behalten, ein sehr positives Fazit ziehen: «WM-Silber und Platz zwei in der Schweizer Meisterschaft sind eine glänzende Bilanz. Ein 5. und ein 8. Platz in Weltcup-Rennen sowie der Abschifer an der EM mit Rang zehn kommen dazu. Schade, dass wir im Vierer immer deutlich besser fuhren, als im Zweier, mit dem negativen Höhepunkt eines Sturzes an der Meisterschaft. Doch das Positive überwiegt bei weitem.»

Nüssli flog bereits nach Calgary

Markus Nüssli absolviert seine fünfte Bob-Saison. Drei Jahre fuhr er bei Philipp Berger, ein Jahr bei Christian Reich und seit dieser Saison sitzt er im Schlitten von Marcel Rohner. Die Wechsel haben sich gelohnt, denn der Gewinn von WM-Bronze ist sein bisher grösster Erfolg.

«Sofern uns die Medaillen nicht wieder weggenommen werden», schränkt der am 9. Juli 1971 geborene grossgewachsene (191 cm) Berger und ergänzt: «Jetzt dürfen wir nicht mehr an St. Moritz denken. Nun gilt es vorauszuschauen. Nach Calgary. In Kanada wollen wir unsere knappe Weltcup-Gesamtführung im Vierer verteidigen. Das wird nicht einfach, denn gleich drei Deutsche Bobs blasen zum Grossangriff. Wir können leider nicht auf Rückendeckung einer zweiten Schweizer Equipe hoffen.».

Bereits am Sonntag ist die Crew nach Übersee abgeflogen. Nach den Rennen in Kanada folgt zum Saisonschluss der Abstecher nach Nagaho. Auch in Japan gilt natürlich das gleiche Prinzip.

Erst zweite richtige Saison

Im Vorfeld und zu Beginn dieser Saison musste Nüssli gegen seinen Teamkollegen Wasser um einen Platz im Vierer kämpfen: «Da sass ich oft wie auf Nadeln. Bin ich nun dabei, oder muss ich wieder zuschauen» Mittlerweile gehört er zum Stamm. Das freut den Berger besonders: «Es ist ja erst meine zweite richtige Saison. Da tut es gut, wenn man Erfolg hat. Doch Geld verdienen kann man mit dem Bobfahren nicht. Obwohl ich im Winter nicht sehr viel arbeite, beträgt mein Jahrespensum sicher 70 Prozent. Dank der sportfreundlichen Firma Hugentobler in Weinfelden kann ich guten Mutes meinem Hobby frönen. Am 6. März kehren wir aus Japan zurück und dann gehe ich sofort wieder ins Geschäft.»

Gerne bei Rohner bleiben

Markus Nüssli möchte auch im nächsten Winter gerne im Rohner-Team bleiben. Den Leichtathleten Nüssli wird es im Sommer in den Wurfdisziplinen weiterhin geben, doch nur im beschränkten Masse. Das klare Ziel heisst Winter-Olympiade in Nagano 1998.

In eben diesem Nagano wird entschieden, ob die Schweizer ihre Medaillen behalten dürfen. Nüssli ist skeptisch: «Tritt das ein, fahren nächste Saison alle mit diesen Achsen, weil sie einiges leichter sind. Eine Mannschaft, die Gewichtsprobleme hat, wird sofort umstellen.»

Hintergrund


WM-Neuling kontert

Christian Reich, der Pilot von Thomas Handschin, hat als WM-Neuling mit Platz zwei im Viererbob enorm überrascht. Der Aargauer, erst in seiner dritten Saison als Pilot, kontert die Anschuldigungen: «Das Verschrauben statt Verschweissen der Achsen ist ein rein servicetechnischer Vorteil. Und zudem kostengünstiger. Wenn etwas kaputt ist, müssen wir mit unserer Methode nur einen Teil der Achse auswechseln und nicht alles wegwerfen.»

Wie hat der Amriswiler Thomas Handschin die Stunden nach dem (vermeintlichen) WM-Silber-Erfolg erlebt? «Zuerst musste ich noch zur Dopingkontrolle antreten. Nach der Siegerehrung herrschte ein gewaltiger Trubel. Dann kam der Aufruf vom Schweizer Fernsehen, alle zwölf Medaillengewinner sollten sich auf den Weg nach Zürich ins Sportstudio begeben. Das hiess, schleunigst zurück ins Hotel, duschen, packen, und ab ging's mit einem VW-Bus. Als wir längst über den Julier gefahren waren, läutete das Telefon, und die Meldung kam, wir müssten sofort umkehren. Etwas mit den Bobs stimme nicht.»

Niemand wusste genau, was los war. Logisch, dass die Truppe mit hängenden Köpfen wieder ins Hotel zurückkehrte und vorerst zwei Stunden auf einen weiteren Entscheid wartete. Für Handschin tauchte ein Lichtblick im dunklen Tunnel auf: «Plötzlich kam die Nachricht, dass die gegen alle drei Schlitten ausgesprochene Disqualifikation zurückgezogen worden sei. Doch andere Neuigkeiten erhielten wir keine.»

Die drei Piloten machten sich dann doch - wie vorher abgemacht - per Helikopter auf ins Fernsehstudio in Zürich. Die restlichen Akteure blieben mitgrossem Frust in St. Moritz zurück.

Markus Nüssli aus dem Bronze-Team von Marcel Rohner erinnert sich genau an den unerwarteten Moment im Bus: «Unser Mechaniker ist gefahren und hat den bitteren Anruf entgegengenommen und den Entscheid an uns weitergeleitet. Im ersten Moment haben wir alle herzhaft gelacht, weil wir an einen Scherz dachten. Doch dann haben wir den Ernst der Lage rasch begriffen. Es war wie ein Hammerschlag.»

Der 25jährige Radio- und Fernseh-Elektriker kann das ganze Theater noch immer nicht begreifen: «Es war sportlich eine hochstehende WM, und dann ein solcher Eklat. Wir können nicht einem Jury-Mitglied der Materialkommission unseren Schlitten vorher zeigen. Die Leute sind aus verschiedenen Nationen und würden sofort ihre Landsleute informieren. Es ist also schon möglich, dass uns jemand verpfeifen wollte.»

Der Thurgauer bringt einen neuen Aspekt ins Spiel: «Weil in St. Moritz ganz offensichtlich Wettkämpfer und Funktionäre Fehler gemacht haben, könnte ein fauler Kompromiss gefunden werden. Es würde mich nicht wundern, wenn die WM 1997 ohne neue Medaillenvergabe ersatzlos gestrichen würde.»

© Thurgauer Zeitung, 12.02.1997